Ein Marshall-Plan für die Ukraine?
Die Börse scheint robuster, als es die Lage rechtfertigt
- Revision der Gewinnaussichten wahrscheinlich
- Entspannte Sicht auf die Notenbankmaßnahmen
- Inflation bleibt hoch – Wachstum kommt wieder
Der von Wladimir Putin begonnene Krieg in der Ukraine verursacht vor allem millionenfaches menschliches Leid. Daneben wirft er Fragen auf, denen viele europäische Länder lange Zeit bewusst oder unbewusst ausgewichen sind. Dazu gehört auch die nach dem Preis der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen und den Konsequenzen für Privathaushalte und Unternehmen.
Der Kapitalmarkt hat diese Fragen in den vergangenen Wochen beantwortet. Das Urteil fällt, betrachtet man die heutigen Kursniveaus in Europa, Japan und den USA im Vergleich zu den Werten am 23. Februar, einen Tag vor dem russischen Überfall, nicht einheitlich aus. Auch wenn einzelne Branchen, wie Automobile und Einzelhandel, seit Beginn des Krieges spürbar nachgegeben haben, bleibt ein erwartetes deutliches Minus bei den großen Indizes aus. Zwar hat der DAX rund 1 Prozent verloren – dagegen haben der FTSE 100, der Nikkei-225 und der S&P 500 zwischen 0,6 und gut 7 Prozent (in jeweiliger Währung) zugelegt. Dabei haben die Märkte außerhalb Europas von ihrer regionalen Entfernung zum Krisenherd profitiert. Gleichwohl verwundert das Gesamtbild. Dies umso mehr als die Börsen auch die Konsequenzen der anhaltenden Inflation in den USA und Europa weiterhin einzupreisen hatten.
Die Gewinnaussichten scheinen noch immer gut
Ursächlich hierfür dürften unter anderem die anhaltend guten Gewinnaussichten vieler Unternehmen sein. Zwar fallen die Erwartungen an künftige Steigerungen nicht mehr so groß aus wie noch vor Jahresfrist, doch halten Analysten und Unternehmensvorstände insgesamt noch an ihren überwiegend positiven Einschätzungen fest bzw. stehen die Revisionen mit Bekanntgabe der Zahlen für das erste Quartal noch aus.
Mir erscheint das vor dem Hintergrund des Margendrucks und der immer noch nicht ausgestandenen Brüche in den globalen Lieferketten etwas zu optimistisch. Wohl gibt es Branchen, deren Situation als robust betrachtet werden kann, wie Technologie und Pharma. Doch gibt es auch zahlreiche Branchen, die in Mitleidenschaft gezogen werden, weil ihre Einkaufspreise sich massiv erhöht haben und sie bislang nicht in der Lage waren, diese Entwicklung umfänglich auf ihre Kunden abzuwälzen. Dieser Druck wird anhalten. Zumal beispielsweise China mit Shanghai im Rahmen seiner Null-Covid-Politik derzeit nicht irgendeine Stadt herunterfährt.
Notenbanken: Die Umsetzung steht noch aus
Zudem stellen die prognostizierten bzw. angedeuteten Maßnahmen der Notenbanken einen Belastungsfaktor dar. So werden von der FED nach dem erfolgtem ersten Zinsschritt in diesem Jahr weitere neun Zinserhöhungen à 0,25 Prozent vom Markt erwartet – bei gerade einmal sechs ausstehenden Sitzungen.
Die EZB ihrerseits wird zumindest ihre Liquidität abbauen. Und auch wenn es ihr am Mut für Zinsschritte fehlen sollte: Der Markt nimmt darauf keine Rücksicht. So rentiert die 10-jährige Bund zwischenzeitlich wieder bei knapp 0,6 Prozent. Das sorgt zwar noch nicht für eine positive Realrendite, markiert aber eine Aufwärtsbewegung von fast einem Prozent binnen eines Jahres. Insofern könnten Banken und Versicherungen zu den begünstigten Branchen der kommenden Monate zählen.
Spekuliert der Markt bereits auf ein Wiederaufbauprogramm?
Wenn Anleihen, wie beschrieben, zumindest nominell attraktiver werden, müsste der Wind für Aktien rauer werden. Doch sind die Realzinsen weiterhin deutlich negativ und möglicherweise handelt der Markt auch bereits eine unausgesprochene Hoffnung auf die Zukunft. Nämlich einen kommenden Waffenstillstand oder gar Friedensschluss, dem ein milliardenschweres Hilfsprogramm für den gebeutelten Staat und seine zerstörte Infrastruktur folgen könnte. Das würde, so zynisch es zum jetzigen Zeitpunkt klingen mag, für Westeuropa und die USA ausgehend von der Bauindustrie und der sicherlich auf Jahre hinaus ausgebuchten Rüstungsbranche einen zusätzlichen Nachfrageschub auslösen.
Insofern sollte das von vielen Analysten im Munde geführte Stagflationsszenario nach meinem Verständnis nur von kurzer Dauer sein. Die Inflation wird zwar anhaltend hoch bleiben – aber die Nachfrage mittelfristig ebenso.
Dafür hat in gewisser Weise auch Putins Aggression gesorgt: Denn die – wenn auch spät – ins Auge gefasste Emanzipation Europas von Russlands Rohstoffen wird die Energiewende hin zu den erneuerbaren Energien beschleunigen und die Exploration in anderen Regionen der Welt unterstützen. Gemeinsam mit den Überlegungen oder gar Bewegungen in Richtung einer De-Globalisierung sind deshalb in den kommenden Jahrzehnten umfangreiche Investitionen zu stemmen.
Selbst wenn also auf kurze Sicht das Szenario für die Aktienmärkte nicht das beste scheint – auf lange Sicht wird es eines sein, mit dem diese leben können.
Der Autor Bodo Orlowski ist Leiter Volkswirtschaft & Aktienselektion bei der SIGNAL IDUNA Asset Management und verantwortet unter anderem die europäischen Aktienfonds HANSAeuropa und HANSAperspektive.
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